E-Book erschienen 08.06.2019
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Paperback erschienen 26.06.2019
ISBN 978-3744835398
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Ines Fox’ 4. Fall

Seefimmel – Eine Bodensee Krimikomödie

Sommer, See und … zwei Leichen?

 

Auf der Suche nach einem verschwundenen Mafioso nebst Tante landen Ines Fox und ihr Dr. Frieder am Lago Maggiore. Während die Hobbyermittlerin und der norddeutsche Pathologe noch die Lage sondieren, tobt am Bodensee ein Unwetter, dem nicht alle Wassersportler entkommen. Unfall oder Mord? Als wären zwei Fälle an zwei Seen nicht genug, erreicht Ines ein Hilfegesuch von ihrem totgeglaubten Erzfeind. Wer steckt bloß dahinter?

Der vierte Band der eigensinnigen Hobbydetektivin mit Hund.

»Seefimmel«, ein humorvoll-absurder Krimi, locker mit Wortwitz erzählt, fühlt sich nicht immer wie ein Krimi an. Er lässt Raum für Traumkulissen, Sonne und Liebe. Die ideale Urlaubslektüre.

 

Krimi Profil

  • Easy going
  • Spannung
  • Gruselfaktor
  • Blutrünstig
  • Lokalkolorit
  • Humor
  • Erfrischung
  • Action
  • Nachdenklich
  • Romantik

Leseprobe

Kapitel 1

Schlaftrunken tapse ich zur Wohnungstür. Die Dielen knarzen unter meinen nackten Füßen.
»Wer?«, murrt es aus dem Schlafzimmer hinter mir.
Ich brumme wortlos zurück, schiebe mich vor zwei neugierige Hundenasen und öffne die Tür einen Spaltbreit.
Vor mir steht eine Mittsechzigerin, einen Korb über dem gewaltigen Arm. Energie für drei strahlt mich an.
Ich schließe die Tür. Ich sage nichts. Warum auch? Diese Frau kann unmöglich hier sein. Weil es keinen Sinn ergeben würde. Weil sie 8000 Kilometer entfernt in Miami, Florida gerade ins Bett geht. Folgerichtig drehe ich mich um und trotte zurück ins Schlafzimmer, das die Morgendämmerung in zartblaues Licht taucht.
Ich krieche zu Dr. Frieder unter die Decke. Schön kuschelig ist es da. Nicht, dass es außerhalb des Bettes kühl wäre, es ist immer noch Sommer. Aber an einem überfrühen Samstagmorgen ist unter der Bettdecke an der Seite von meinem Liebsten der einzige Platz, an dem ich sein möchte.
Er stupst mich an. Einmal. Zweimal. »Es klingelt wieder«, murrt er. Schiebt er mich gerade aus dem Bett?
Jemand parkt seinen Finger auf dem Klingelknopf. Mein blonder Wuschel Santo und Dr. Frieders braun getupfte Dalmatinerdame Fila jodeln mit der scheppernden Klingel. Santo mischt gelegentliches Fiepen ein, was bedeutet, dass er die Person vor der Tür kennt.
Ich seufze, raffe mich auf, will in die Bettdecke gewickelt aufstehen, doch Dr. Frieder hält sie eisern fest. Dann eben ohne Decke.
»Ines, du hast Besu-huch«, trällert die schmerzhaft muntere Stimme einer Erstklässlerin aus dem Treppenhaus. Emma aus dem zweiten Stock. »Eine dicke Frau mit einem riesigen Korb. Die hat bei uns oben geklingelt und redet so komisch. Ich versteh die nicht. Und immer will die mir an die Backe fassen.«
»Wange«, murmle ich.
Ich öffne die Tür und reibe mir die Augen. Es ist ein Klischee, dass man das tut, wenn man seinen Augen nicht traut. Aber leben wir nicht alle hin und wieder in einem Klischee? Also ich für meinen Teil tue das.
Klischee hin oder her, so viel kann ich sagen, Augenreiben hilft nicht. Die Frau steht vor der Tür wie zuvor, nur, dass Emma jetzt danebensteht, im rosa Schlafanzug mit Einhornmotiv.
Mein Hund Santo wirft sich Emma entgegen, sie schlingt die Arme um ihn. Unverkennbar: Die beiden sind dicke Freunde. Uhrzeit und Wochentag sind da nebensächlich.
»Inés! Chica. Ich bin so froh, dich zu sehen. Ich störe nicht, tue ich?«, sagt die Frau auf Englisch.
»Ines, was will die Frau?« Emma kniet auf dem Boden, einen Arm um Santo gelegt, und blickt zu mir auf.
Ich starre erst Emma, dann die Frau an und bin versucht, mir nochmals die Augen zu reiben, aber das bringt ja nichts. Stattdessen seufze ich tief und setze darauf, dass der zusätzliche Sauerstoff meinem müden Hirn auf die Sprünge hilft.
»Tante Inés, welche Überraschung! Schön dich zu sehen«, sage ich auf Englisch und bringe tatsächlich ein höfliches Lächeln zustande. »Komm bitte herein.« Dazu gibt es eine einladende Armbewegung.
Fila streckt ihre braune Nase in Richtung des Korbs der frühen Besucherin. Er ist gefüllt bis zum Rand.
Emma schiebt sich an Tante Inés ausladenden Hüften vorbei in den Flur.
»Wer?«, ertönt es aus dem Schlafzimmer, darunter wabert ein leicht alarmierter Unterton.
»Tante Inés ist zu Besuch«, rufe ich auf Englisch, warum auch immer. »Zieh dir vielleicht was an«, ergänze ich auf Deutsch.
Emmas inneres Känguru ist aufgewacht und hüpft Richtung Schlafzimmertür. Die Sprungkraft des Mädchens, das habe ich dieser Tage schon festgestellt, hat zugelegt. Wenn sie sich in der Geschwindigkeit weiterentwickelt, wird Emma in zwei Jahren mit einem Sprung über den Rhein setzen.
»Und Emma«, rufe ich deutlich zu spät hinterher.
Emmas Jauchzen nach zu urteilen, wirbelt mein Norddeutscher Emma im Kreis herum, wie er es gerne tut. Mit mir im Übrigen auch – gelegentlich.
Bevor ich irgendetwas anderes unternehme, stelle ich mich besser erst mal vor.
Mein Name ist Ines Fox und ich wohne in Konstanz, der größten Kleinstadt am Bodensee. Ich bin Jungunternehmerin und führe das kleine Unternehmen Foxinet. Wir machen in Webdesign. Die Geschäfte laufen so lala, was allein auf die Kappe der Chefin geht, die ihre Nase lieber in allerlei Kriminelles steckt, Morde aufklärt, anstatt sich um den Erfolg von Foxinet zu kümmern. Würde ich mich mit der gleichen Begeisterung dorthinein knien, wären alle Foxinets reich und schön. So geben wir uns vorerst mit der Schönheit zufrieden. Ist ja auch schon was.
Tante Inés’ Blick wandert über mein Outfit. Aus einem von Dr. Frieders T-Shirts ragen meine Beine in nahezu ganzer Länge. Dem fortgeschrittenen Bodenseesommer sei Dank staken sie zumindest nicht kalkweiß heraus, wie es meinem natürlichen Teint entspricht. Trotzdem ist dies ein Outfit, das einer Bettdecke bedarf, um komplett zu sein. Unwillkürlich zupfe ich den Saum des Shirts nach unten. Die andere Hand wandert in meine rote Lockenmähne und unternimmt den Versuch, dort Ordnung zu schaffen. Lächerlich.
Doch zurück zur Person, die da unschlüssig im Flur steht, Korb über dem Arm. Und Rollkoffer neben sich?
Ich lächle sie etwas verunsichert an und deute zur Küchentür. »Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee, Tante Inés?«, frage ich auf Englisch.
»Gute Idee.« Sie nickt zu mir hoch und schreitet an mir vorbei Richtung Küche. Als ihre Hüften mir voran wogen, entdecke ich mehr silberne Fäden im schwarzen Haar ihrer halblangen Frisur als bei unserem letzten Zusammentreffen. Vor sechs Wochen etwa war das. Auf der anderen Seite des Atlantiks. Unter unschönen Umständen. Und jetzt wird’s kompliziert. Ob ich das so früh am Morgen erklärt bekomme, bezweifle ich, aber versuchen werde ich es.
Unsere Besucherin ist nicht meine Tante, sondern die Tante des Kleiderschrankes Fidel, der in Diensten des kubanisch-amerikanischen Mafiabosses Juan steht. Ich hatte das Pech, im Zuge der letzten Ermittlungen mit der ganzen Gesellschaft zusammenzutreffen. In Miami.
Nun könnte man meinen, bei der Gelegenheit hätte sich eine Freundschaft entwickelt, für die der Atlantik kein Hindernis darstellt. Warum sonst würde Tante Inés zu einem Besuch herfliegen? Unangemeldet? In der Morgendämmerung?
Ich habe keine Ahnung.
Eine Stunde meines dreißigjährigen Lebens habe ich mit ihr verbracht, während der sie mich vortrefflich verköstigte. Das ist ihre Aufgabe beim organisierten Verbrechen: Die artgerechte, will heißen kubanische Ernährung des Mobs. Beruf und Familie sind eins in diesen Kreisen, Arbeit und Essen auch.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Dieses Intermezzo vermag Tante Inés’ heutiges Erscheinen nicht zu erklären.
»Sweetie. Warum ziehst du nicht etwas an, und solange mache ich uns Frühstück?«, schlägt sie vor, wuchtet den Korb auf den Küchentisch, knöpft die Blusenärmel auf und krempelt sie hoch, checkt noch schnell die Nachrichten auf ihrem Smartphone und wendet sich dann der Spüle zu. Von deren Ablaufrinnen erhebt sich ein wackeliger Turm aus Töpfen und Pfannen. »Ich habe Süßkartoffelkuchen mitgebracht. Es war schwierig, ihn durch den Zoll zu bringen.« Sie zwinkert mir zu.
»Das ist sehr nett von dir, vielen Dank.« Auch wenn Tante Inés nur wenig über einer Unbekannten rangiert, weiß ich: Ihr Süßkartoffelkuchen ist sensationell. »Ich bin gleich wieder da«, zwitschere ich, mache auf der nackten Ferse kehrt und blicke geradewegs in die blauen Augen von Dr. Frieder.
Mein Freund steht in der Küchentür, Emma auf dem Arm, sieht mich fragend an und fährt sich durch seinen verwuschelten Blondschopf, was nichts an dessen Unordnung ändert, meinen Mitbewohner aber unwiderstehlich macht. Weißes T-Shirt und verwaschene Jeans, aus denen unten braune Sommerfüße gucken. Zum Anbeißen.
»Darf ich vorstellen, mein Boyfriend Dr. Marc Frieder. Emma kennst du ja bereits«, sage ich auf Englisch und dann auf Deutsch: »Das ist Tante Inés. Sie kommt aus Miami, das ist in Amerika.«
Emma auf Dr. Frieders Arm nickt ernst, als wisse sie Bescheid.
Für manche ist es befremdlich, dass ich meinen Freund beim Nachnamen nenne, obwohl sein Vorname mir gut gefällt. Sie schließen daraus, unsere Beziehung sei nicht innig, in der Namenswahl käme Distanz zum Ausdruck. Quatsch! Ich sage Dr. Frieder einfach gern. Ich bin dabeigeblieben, ihn so zu nennen, wie er sich vorstellte, als wir uns vor etwa einem Jahr bei meinem ersten Fall in der Pathologie des Klinikums Konstanz kennenlernten. Kurz bevor ich umkippte.
Ich verschwinde ins Badezimmer. Als ich zurückkomme, ein Sommerkleid übergeworfen, das mehr Bein bedeckt, duftet es nach Kaffee und … Speck? Dr. Frieder und Emma sitzen artig am Küchentisch, jeder ein abnormes Stück Süßkartoffelkuchen vor sich. Der Topf- und Pfannenturm auf der Spüle wurde abgerissen, etwas brutzelt auf dem Herd.
Eier mit Speck! jubiliert mein Bauch. Ich stöhne innerlich. Speck will ich nicht mehr essen, wegen der armen Schweine. Meinem Bauch ist das wurscht. Aber lassen wir das.
In den drei Minuten, die ich im Bad und zum Ankleiden brauchte, hat Tante Inés vermutlich noch die Küchenschränke ausgewischt und die Wäsche gemacht. Entweder führt sie die Frühstückszutaten stets mit oder sie war mal eben einkaufen. Ich halte beides für möglich.
Manchmal weiß ich, wann ich zur Seite treten und anderen Raum für ihre Selbstentfaltung geben muss. Ich weiß, wann ich ihnen erlauben sollte, zu sein, wer und was sie sind. Jetzt!
Ich lächle Tante Inés an und setze mich als Gast. Sie strahlt, stellt Tassen auf den Tisch und gießt ein. Kaffee für Dr. Frieder und mich, Milch für Emma. Ein Stück Süßkartoffelkuchen kommt angeflogen.
Wenig später erfüllen Genusslaute in allen Tonlagen die Küche. Selbst Santo und Fila haben andächtige Mienen aufgesetzt. In ihren Näpfen landet einiges, was da noch nie war und auch nie wieder sein wird. Tante Inés weiß, wie man sich Freunde fürs Leben macht.
Zwischendurch schenkt sie Emma ein Lächeln und tätschelt ihr mit fleischiger Hand die Wange. Emma kaut auf beiden Backen und schaut aus großen Augen zu ihr auf. Weder hat sich Tante Inés gesetzt, noch konsumiert sie von dem, was sie da auffährt. Vermutlich gilt das als unfein, dort, wo sie herkommt.
»Die nette Frau heißt wie du«, stellt Emma fest.
»Nein nein, sie heißt Inés. Ich heiße Ínes. Das ist etwas ganz anderes.«
»Ist es nicht«, sagt Emma. »Stimmt’s, Dr. Frieder?«
»Jou.« Er lächelt breit.
Tante Inés sieht mich fragend an. Ich übersetze mal eben.
»Sag der Chica, dass dein Name falsch betont wird«, weist sie mich auf Englisch an.
»Sicher nicht«, brumme ich auf Deutsch.
Tante Inés quasselt in einem Affentempo auf Spanisch, dass dem Mädchen der Mund offensteht.
»Wow«, sagt Emma und knabbert an einem Stück Speck.
»Wir sprechen leider alle kein Spanisch, Tante Inés«, sage ich auf Englisch, schiebe mir das letzte Stückchen Süßkartoffelkuchen in den Mund und genieße es in vollen Zügen.
Dann kämpft sich meine Neugierde hoch. Es grenzt an ein Wunder, dass sie es bisher noch nicht getan hat, denn ich habe ein Problem mit ihr. Immer wieder lande ich in Situationen und an Orten, wo ich ohne meine Neugierde nie hinkäme. Ich bin kulinarisch und geistig verfressen, leide an Einmischeritis, bin krankhaft neugierig oder wie immer man es formulieren möchte. Aber – und das tröstet – ich bin unschuldig. Die Gene. Meine Mutter hat bereits gestanden.
»Was verschafft uns das Vergnügen?«, frage ich.
Tante Inés versteift sich, als würde ihr in dem Moment klar, dass sie nicht nur angereist ist, damit uns endlich mal jemand ein anständiges Frühstück serviert.
»Fidel«, sagt sie und sucht nach einem Taschentuch.
Fidel, ihr Neffe, Mafioso, vermutlich hochgradig kriminell.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist verschwunden.«

Kapitel 2

Dr. Frieder wirft mir einen Blick zu, den ich auf die Schnelle nicht zu deuten weiß, weshalb ich ihn fragend anblicke.
»Nich unser Zirkus, nich unsere Affen«, sagt er auf Deutsch und fixiert mich eindringlich.
Nun könnte man das so verstehen, dass Dr. Frieder dem Lösen von Kriminalfällen abgeneigt ist. Das Gegenteil ist der Fall. Bei einem Mord ist er der Erste am Tatort, schlüssig daher, dass er Rechtsmediziner werden will. Im Moment legt mein Doktor eine Zwischenstation in der Pathologie des Konstanzer Klinikums ein.
Geboren auf Amrum, Gymnasium auf Föhr, Medizinstudium in Hamburg, schlendert er tiefenentspannt durchs Leben, ist auf das Wesentliche konzentriert. Auch verbal. Der Nordfriese und ich Bodenseegeschöpf sind ein Kontrastpaar.
Hätte Tante Inés also gesagt, Fidel läge tot in der Ecke, Dr. Frieder wäre mit seiner Arzttasche schon vor Ort.
»Gehen wir trotzdem hin? Au ja, in den Zirkus zu den Affen«, ruft Emma, klatscht in die Hände und springt auf. Die Hunde, die brav gelegen und auf weitere Freundschaftsbeweise seitens der Besucherin mit dem großen Korb gewartet haben, springen mit auf.
»Das sagt man nur so. Es gibt keinen Zirkus«, sage ich auf Deutsch zu Emma und dann auf Englisch an Tante Inés gewandt: »Und warum bist du hier? War er zuletzt in Deutschland?«
»Nein, in der Schweiz. Bitte hilf mir, ihn zu finden.«
Ich brauche definitiv einen zweiten Kaffee, um meinem Gehirn Beine zu machen. Und um mir Zeit zu verschaffen. Nippt jemand an einem Getränk, gesteht man ihm automatisch Bedenkzeit zu.
»Noch etwas Süßkartoffelkuchen?«, fragt Tante Inés strahlend. Eine Kleinfamilienportion ist bereits in der Luft und im Landeanflug auf meinen Teller. Wacker arbeite ich an dem Brocken. Emmas Gabel gesellt sich kommentarlos dazu und hilft beim Abbau, wenig später gräbt Dr. Frieders Gabel am anderen Ende.
Seinem Gesichtsausdruck nach erwartet mein Freund und Mitbewohner immer noch etwas von mir. Ich neige leicht den Kopf, schaue ihn fragend an. Er legt die Gabel beiseite, spreizt beide Hände und hebt gleichzeitig die Augenbrauen. Soll wohl soviel heißen wie, ist doch klar, was ich meine, nu aber los.
Ich denke nach. Welchen Grund gäbe es, einer Frau zu helfen, einen Kriminellen wiederzufinden, der vor ein paar Wochen mit dafür verantwortlich war, dass ich mich gefesselt auf kleinstem Raum eingesperrt fand und mir gedroht wurde, man würde Dr. Frieder und mir etwas antun, täte ich nicht, was man von mir verlangt? Wir sind da gerade mal so heil herausgekommen.
»Wieso kommst du zu mir?«, frage ich.
»Ich kenne niemanden sonst in Europa.«
»Aber Juan kennt eine Menge Leute hier. Sie suchen doch bestimmt nach ihm.«
Dass der Arm von Fidels Boss weit reicht, hat er gezeigt. Immerhin so weit, um Mafiosi aus dem italienischen Sprachraum zu beauftragen, Dr. Frieder in Konstanz in einen Keller zu sperren und mich damit unter Druck zu setzen.
Tante Inés schüttelt den Kopf.
»Warum nicht?«
»Fidel ist auf sich selbst gestellt.«
»Aha«, sage ich, ohne dass sich dahinter eine Erkenntnis verbirgt.
»Zirkus. Affen«, sagt Dr. Frieder mit Nachdruck.
Ich winke ab.
»Fahren wir zum Affenberg?«, sieht Emma sich inspiriert. »Ist nicht weit.«
»Was ist mit Pablo?« Fidels Kollege, Mafioso, vermutlich hochgradig kriminell.
»Verhaftet. In Miami. Und Carlos ist auch verschwunden.«
»Welcher Carlos?«
»Du kennst Carlos. Er arbeitet mit Fidel zusammen.«
Es gab noch zwei weitere Kleiderschränke in Juans Diensten, die ich die Ehre hatte, kennenzulernen, allerdings nicht namentlich. Den einen habe ich Wäschepuff, den anderen Kleiderständer getauft. Beides aufgrund ihrer Erscheinung.
Tante Inés macht eine ungeduldige Geste. »Er liebt es, zu essen. Er isst nonstop.«
Also Wäschepuff.
»Verschwunden? Seit wann?«
»Seit er mit dir von Miami nach Zürich geflogen ist.«
Ich war vermutlich Teil eines Ablenkungsmanövers für den Zoll am Flughafen Zürich. Zwangsrekrutiert. Danach habe ich ihn aus den Augen verloren.
Ich schaue Dr. Frieder an, ob das etwas an seiner Einschätzung ändert. Das tut es nicht. Wenig erstaunlich. Für den Fall, dass ich ihn missverstehe, schüttelt er heftig den Kopf.
Nun, Dr. Frieder hat recht. Natürlich hat er das. Spielt man es durch, und ich fände Fidel und Carlos, dann nur, damit sie dort landen, wo sie hingehören: hinter Gitter. Ob in Europa oder in den USA sei dahingestellt. Diese Lösung wird Tante Inés kaum vorschweben.
Kurz hadere ich mit mir.
»Bitte, Inés, Chica!«, fleht sie.
»Es tut mir leid, aber wir können dir nicht helfen«, sage ich mit betont fester, wenn auch recht leiser Stimme.
Ja, da bin ich jetzt selbst ein wenig überrascht.  

Kapitel 3

»Ich verstehe«, murmelt Tante Inés nun schon zum dritten Mal. Sie packt zusammen, wuchtet den Korb zurück auf den gewaltigen Arm und schiebt ihre Hüften durch die Tür. Einem Teil ihrer stolzen Körperhaltung und Energie beraubt, zieht sie von dannen.
Ich habe versäumt zu fragen, wo sie Quartier bezieht und was sie zu unternehmen gedenkt, um ihren Neffen zu finden. Wenn ich ehrlich bin – und das strebe ich ja immer an, soweit nichts explizit dagegenspricht – wollte ich die zwei so schnell wie möglich loswerden. Tante Inés und mein schlechtes Gewissen, jemandem Hilfe verweigert zu haben.
Durch die Tür und aus dem Sinn. Wenn das nur immer so einfach wäre. Denn natürlich geht mir die Sache nicht aus dem Kopf.
»Das einzig Richtige«, bekräftigt Dr. Frieder zum wiederholten Male, während wir mit den Hunden am Bodenseeufer entlangschlendern. Genauer sind wir auf der Seestraße unterwegs, der Konstanzer Promenade mit ihren gestutzten Platanen, Bänken und vereinzelten Treppen, die hinunter zum Wasser führen.
Meine Wohnung – die ich immer noch so nenne, obwohl Dr. Frieder vor 46 Tagen eingezogen ist, die Hälfte der Miete zahlt und mit auf dem Klingelschild steht, obwohl es also im weiteren wie im engeren Sinne nun unsere Wohnung ist – liegt im Erdgeschoss eines Altbaus in einer Nebenstraße der Seestraße. Hohe Decken, knarzendes Parkett, eine Badewanne mit Löwentatzen und ein kleiner Sitzplatz im Hinterhof mit einem Minigärtchen ganz für uns. Das perfekte Paket. Vor allem ist die Lage ideal: Wir sind schnell am See, wir sind schnell im Stadtzentrum, wo das Foxinet-Büro liegt, und Dr. Frieder ist schnell im Klinikum. Alles zu Fuß in wenigen Minuten.
Dr. Frieder hat wenig Mobiliar mitgebracht und so kommt unsere interspezifische Familie – zwei Menschen, zwei Hunde – in zwei Zimmern plus Wohnküche gut zurecht.
Heute bewegen wir uns behäbig die Seestraße entlang. Das üppige Frühstück trägt sich schwer durch die sommerliche Morgenluft. Selbst die Hunde sind weniger lebhaft als sonst. Das Leben um uns herum ist doppelt so schnell unterwegs: Locker trabende Jogger, beschwingte Hundegänger und frühe menschliche Vögel auf Rädern, alle bis in die Haarspitzen motiviert, kein Fitzelchen des Sommerwochenendes zu verschwenden.
Von der Seestraße genießt man besten Blick auf den Teil des Bodensees, der sich Konstanzer Trichter nennt. Hier wird Bodenseewasser in den Rhein gefüllt. Zur Rechten die alte Rheinbrücke, auf der bunte Flaggen wehen. Als Kulisse die Altstadt, das weiß strahlende Inselhotel und der Stadtgarten, schräg gegenüber das Schweizer Ufer.
Eine sanfte Brise lässt unzählige Miniwellen in Glitzerkunst funkeln. Ein Schwarm Kormorane frühstückt in der Mitte der großen Bucht. Über fünfzig Vögel tauchen ab, tauchen auf, fliegen hoch und bringen das Wasser zum Brodeln. Ein Motorboot kommt angeschossen und die Kormorane fliehen in die Weite des Obersees.
Ich sehe ihnen nach, würde gerne mitfliegen. Ein schlechter Tag auf dem See ist besser als ein guter Tag im Büro, heißt es. Ja, heute ist Samstag, aber das wird mich nicht daran hindern, den Foxinet-Arbeitsberg zu verringern.
»Das einzig Richtige«, wiederholt Dr. Frieder.
»Jaja, ich weiß«, sage ich und bringe meine Gedanken zurück zum Thema.
Jemand hat mich um Hilfe gebeten und ich habe Nein gesagt. Da fragt man sich, was resultiert daraus? Was macht Tante Inés jetzt? Und natürlich: Wo ist Fidel abgeblieben? Und Carlos? Seit sechs Wochen!
Ich seufze. So ist das mit mir und meiner Neugierde. Hin und wieder fasse ich einen neugierfeindlichen Entschluss, bin eins mit ihm, davon überzeugt, das Richtige zu tun. Und dann meldet sich meine Neugierde hinterrücks. Etwas in mir quengelt, es gelte, mehr zu erfahren, man könne das nicht auf sich beruhen lassen, wo käme man denn da hin, wenn man solche Vorkommnisse sang- und klanglos verstreichen ließe. Nein, ich gebe meiner Neugierde keine eigene Stimme, das wäre ja total albern.
Dr. Frieder lächelt, legt den Arm um meine Schulter, zieht mich an sich und küsst meinen Scheitel. Eigentlich ist es die Stelle, an der ein Scheitel den aussichtslosen Kampf gegen Locken führt.
Ich schaue ihn erstaunt an.
»Wasn?«, fragt er.
»Du küsst mein Haupt? Das ist neu.« Ich lächle ihn an.
»Jou. Brauchst Zuspruch. Hast die richtige Entscheidung getroffen.«
»Moi?«, frage ich auf Französisch.
»Wer sonst?«
»Du, Dr. Frieder, warst ja durchaus beteiligt am Entscheidungsprozess.«
Er grinst. »Hast du bemerkt, was?«
Ich knuffe ihn neckisch in die Seite. »Wie hätte mir das entgehen können? Ich sage nur, nicht unser Zirkus, nicht unsere Affen. Wegen dir müssen wir jetzt mit Emma zum Affenberg fahren.«
Er gibt mir einen weiteren Kuss auf die Haare.
»Das gewöhne dir mal bitte gleich wieder ab«, knurre ich.
Er lacht. »Gefällt dir nicht?«
»Hat was Gönnerhaftes, Großväterliches. Apropos Emma und Gönner. Sie hat bald Geburtstag. Ich würde ihr gerne ein kleines Schmuckstück schenken. Spielzeug und Bücher hat sie zuhauf.«
»Was denn? Ein Piercing?«
Ich muss lachen. »Stell dir mal das Gesicht ihrer Mutter vor, wenn Emma mit einem Nasenpiercing …«, pruste ich.
»Die Lütte mit Zungenpiercing«, lacht er.
»Nabelpiercing?«, kichere ich.
Wir kugeln uns im Duett.
»Hach, großartig«, seufze ich und wische mir Lachtränen aus den Augenwinkeln. Nach einer kleinen Verschnaufpause sage ich: »Du hast ja recht.«
»Ich habe WAS?« Um das Gesagte zu unterstützen, bleibt Dr. Frieder abrupt stehen und tritt einen Schritt zurück, Miene unbewegt.
»Ja, du hast recht. Es wäre eine Schnapsidee, Tante Inés dabei zu helfen, Fidel und Carlos wiederzufinden«, sage ich lächelnd.
Wir sind am Ende der Seestraße beim Konstanzer Yachthafen angelangt. Die ersten Segelboote werden für ein Wochenende auf dem Wasser aufgetakelt. Es ist immer kurzweilig, dem Treiben in einem Hafen zuzuschauen. Selbst für Landratten ist es das. Für den schifffahrtsaffinen Nordfriesen hier, dem die Seefahrt im Blut liegt, allemal.
Heute wird mein Blick von etwas anderem eingefangen. Am Ende des Hafens hockt eine füllige Frau auf einem Rollkoffer, einen Korb neben sich auf dem Boden, und starrt auf den See hinaus. Eine Hand wischt über eine Wange.
Tante Inés weint?
Dr. Frieder hat den Arm um meine Schulter gelegt, was er nun als Ines-Steuerungssystem einsetzt. Er dreht mich in einer Kreisbewegung um sich herum, weg von Tante Inés. Ich schüttle seinen Arm ab, schenke ihm einen grimmigen Blick und gehe zu ihr.
»Tu’s nicht«, zischelt Dr. Frieder mir hinterher.
Ich hebe eine Hand und winke ab.
»Tante Inés«, sage ich sanft.
Sie schaut müde auf. »Inés, Chica!« Ein Hoffnungsschimmer erhellt ihr Gesicht, als würde mein Auftauchen eine graue Wolkendecke öffnen.
»Es tut mir leid. Aber wir können dir wirklich nicht helfen, Fidel zu finden«, beraube ich sie gleich mal jeder Illusion.
Ihre Miene verfinstert sich wieder.
Ich blicke mich um. Dr. Frieder ist mir nachgekommen und schaut mich verwundert an. Da hat er wohl anderes erwartet.
»Was wirst du tun?«, frage ich sie.
Ich kann mir ausmalen, was man da denkt. Helfen, nein, aber die Neugier stillen? Ja, so bin ich. Ich habe keinen Grund, es zu leugnen.
Sie zuckt mit den Achseln. »Ich weiß nicht.«
»Möchtest du, dass ich dir helfe, ein Zimmer zu finden, oder fährst du gleich weiter nach Zürich?«
»Nach Zürich?«
»Hast du nicht gesagt, Fidel sei in Zürich verschwunden?«
»Carlos ist in Zürich verschwunden. Fidel ist in einer anderen Stadt verschwunden.« Sie holt ihre Handtasche aus dem Korb und entnimmt ihr ein Smartphone.
»Ascona«, liest sie ab und sieht mich erwartungsvoll an.
»Was hat er denn im Tessin gemacht?«, frage ich.
»Ti-was?«, fragt sie.
»Ticino. Da liegt Ascona. Der südlichste Kanton der Schweiz. Nahe der Grenze zu Italien.«
Dr. Frieder berührt mich am Arm. »Was machst du da?«, fragt er leise, aber eindringlich.
»Sie auf den Weg bringen.«
»Aha.«
»Ja, wirklich«, sage ich ungeduldig und wende mich wieder Tante Inés zu, die sich etwas steif vom Rollkoffer erhebt.
»Ich weiß nicht, was er da gemacht hat. Von da hat er sich zuletzt gemeldet. Er …«, sie zückt ihr Taschentuch und tupft sich die Augenwinkel. Das ist Effekthascherei. Sie hat ohne Taschentuch vor sich hin geweint, bevor wir kamen. Nun fließt da nichts mehr und es wird publikumswirksam getupft. »Er hat nach Carlos gesucht.«
»Fidel wurde geschickt, um Carlos zu finden?«
Sie nickt.
Das wird der Grund sein, warum Juan keinen weiteren Mitarbeiter für die Suche abstellt. Langsam dürften ihm die Männer fürs Grobe ausgehen.
»Wann hat Fidel sich zuletzt aus Ascona gemeldet?«
»Vor vier Wochen. Seiner Mutter, meiner Schwester Maria, geht es nicht gut. Ich habe ihr versprochen, ihn wiederzufinden.«
»Zirkus, Affen«, raunt Dr. Frieder. Eine Hand legt sich in meinen Nacken.
»Habt ihr die Polizei eingeschaltet?«, frage ich.
Tante Inés reißt die Augen auf und macht eine ausdrucksvolle Geste, die ich als Seid ihr verrückt? interpretieren würde. Genauso gut könnte es aber bedeuten, dass sie uns den Tod wünscht.
»Nein, natürlich nicht«, beantwortet Dr. Frieder meine Frage.
Ich wende mich von Tante Inés ab und gehe mit Dr. Frieders Hand im Nacken ein paar Schritte beiseite. »Sollen wir Arthur kurz fragen, ob er …«
»Nein«, kommt kategorisch vom Norddeutschen. Die Meinung bekräftigt er mit leichtem Druck seiner Hand in meinem Nacken, derer ich mich gleich mal entledige. Eine nur minimal angedeutete Selbstverteidigungstechnik, die ihm zeigt, ich hätte auch anders gekonnt.
»Oha«, sagt er verblüfft.
»Ich verstehe dich ja. Beim letzten Fall habe ich uns in typischer Ines-Manier in Gefahr gebracht. Aber können wir nicht einfach kurz drüber reden? Musst du mich so unter Druck setzen?«, raune ich. Es ist selten, dass mir sein Verhalten gegen den Strich geht.
Er nickt. »Okay, reden wir.«
»Also, was meinst du? Wir selbst möchten ihr nicht helfen, aber vielleicht lässt sich das ein oder andere in Erfahrung bringen, ohne das zu tun? Wie wäre es, wenn Arthur mal kurz bei den Schweizer Kollegen anfragt, ganz unverbindlich?«
Kriminaloberkommissar Arthur von Leisfall. Wir hatten im Zuge der letzten Fälle mehrere Berührungspunkte.
»Die Frau will ihren Neffen zu ihrer Schwester zurückbringen, richtig?«, fragt er.
Ich nicke.
»Sobald du die Polizei einschaltest, wenn auch nur in Form von Arthur, gefährdest du das. Willst du das?«
Ich denke nach. »Na ja«, sage ich. Selbstredend ist mir das klar. Das war es mir von Anfang an. Dazu muss man kein Mathematikprofessor sein. »Eigentlich gehören die allesamt hinter Schloss und Riegel. Vermute ich. Gesicherte Erkenntnisse habe ich natürlich nicht.«
»Du legst es darauf an, dass sie verhaftet werden?«
»Das tun wir normalerweise. Wir sorgen dafür, dass die Verbrecher ihre Strafe erhalten. Die haben dich und mich gegen unseren Willen festgesetzt. Wer weiß, was sie sonst noch alles verbrochen haben. Womöglich sind sie waschechte Mörder.«
»Du möchtest nicht ernsthaft vortäuschen, du würdest helfen, ihren Neffen zu finden, nur um ihn verhaften zu lassen.«
»Möchte ich nicht?«, frage ich.
»Nee, möchtest du nich.«
»Wäre nicht nett, was?«, sage ich lächelnd.
Er schüttelt stumm den Kopf.
Ich wende mich wieder Tante Inés zu, die geduldig neben Koffer und Korb gewartet hat, das Taschentuch in der Hand.
»Wir haben gerade diskutiert, ob wir einen Freund bitten, etwas herauszufinden. Er ist Polizist. Das ist nicht ohne Risiko für Fidel und Carlos, aber es ist alles, was wir tun können.«
»Ich verstehe«, sagt sie mit Grabesstimme und schüttelt langsam den Kopf. »Keine Polizei.«
»Kann ich dir mit dem Zugticket nach Ascona helfen? Oder präferierst du einen Mietwagen?«, frage ich mit einem leisen Lächeln, das sie aufheitern soll, was natürlich Quatsch ist.
Sie seufzt. »Ich nehme den Zug. Danke, ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen.« Eine englische Floskel. Sie meint es nicht so. Sie ist mit anderen Erwartungen im Gepäck angereist. Mit aberwitzigen, realitätsfernen Erwartungen.
Nicht zum ersten Mal heute frage ich mich, welchen Eindruck sie bei unserer Begegnung in Miami von mir gewonnen haben muss, dass sie mit dieser Bitte hier auftaucht. Was hat sie sich denn vorgestellt? Und welche übermenschliche Kraft zur Vergebung gegenüber dem, was ihre Leute mir angetan haben, hat sie mir zugetraut? Sie ist nur die Köchin der kubanisch-amerikanischen Mafia. Gleichwohl ist sie Teil der Mafia. Wahrscheinlich hat sie nur nach einem Strohhalm gegriffen. Nach dem allerletzten, mickrigen, mehrfach angeknickten Strohhalm. Anders ist es nicht zu erklären.
Ein kurzer Blick in mein Smartphone zeigt, der nächste Zug Richtung Ascona verlässt in gut dreißig Minuten den Konstanzer Hauptbahnhof.
Einen Wimpernschlag später ist ein eigenwilliges Gespann im Eiltempo auf der Seestraße unterwegs. Ein Kavalier mit leicht verstrubbeltem blondem Haupthaar, der einen Korb trägt und einen Rollkoffer hinter sich herzieht, dabei nicht gehetzt wirkt, lediglich seine Schrittlänge angepasst hat und kraftvoll ausschreitet. Schräg dahinter eine Mittsechzigerin, die ihre gut genährten Hüften in der Bemühung wogen lässt, Schritt zu halten und trotzdem dem Stil einer stolzen Latina treu zu bleiben. Auf der anderen Seite eine Rothaarige, die von zwei Hunden vorwärtsgezogen wird.
Zehn Minuten später sind wir vor meiner Wohnung bei Dr. Frieders VW-Bus T1 alias Bulli. Wie nahezu jeder, der ihn das erste Mal sieht, stößt auch Tante Inés einen Laut des Entzückens aus. Aus den 1960ern, dunkeltürkis mit weißem Dach, getrennte Frontscheibe, Weißwandreifen, Lamellenscheiben, seitliche Doppeltür. Von Dr. Frieder eigenhändig restauriert.
Tante Inés besteigt den Beifahrersitz mit einer Grazie, die überrascht. Wir vier anderen hüpfen an Bord. Kurz danach haben wir sie zum Bahnhof chauffiert, ein Ticket erstanden und eine inzwischen etwas verschwitzte Dame in den Zug gesetzt.
»Puh«, sage ich zurück im Bulli, in dem Dr. Frieder gewartet hat.
»Jou, puh«, meint er. »Wieder ins Bett?«
Ich schenke ihm ein Lächeln. »Du hast immer so gute Vorschläge, aber ich muss heute ins Büro.«
»Du bleibst gleich da?« Er macht eine Kopfbewegung zu dem hellblauen Gebäude, das dem Bahnhof direkt gegenüberliegt.
Ich nicke. »Tut mir leid, aber …« Ich beende den Satz nicht. Was gibt es da auch zu sagen? Als Unternehmerin hat man zu tun. Er weiß das und hat in der Regel kein Problem damit.
Auf meine Frage, wie er gedenke die nächsten Stunden zu verbringen, erzählt er etwas von Terrasse, Schwimmen und Boot.
Dr. Frieder hat ein altersschwaches Ruderboot auf der Insel Reichenau liegen. Er hat es Piephus genannt, norddeutsch für Kerngehäuse.
»Och, auf das Piephus hätte ich auch mal wieder Lust. Lange brauche ich nicht«, sage ich.
Er stupst mir mit dem Finger auf die Nase. »Die Piephus. Das weißt du.«
»Weiß ich?«, frage ich blöde grinsend und küsse ihn ausführlich.
»Doch zurück ins Bett?«, flüstert er.
Betrübt schüttle ich den Kopf. »Wenn ich die To-dos unerledigt lasse, starte ich gestresst in die neue Woche. Da haben wir alle nichts von. Apropos Stress: Wann fahren wir endlich mal in Urlaub?«
»Als wir zuletzt einen Urlaub planten, starben drei Menschen.«
»Über so was reißt man keine Witze. Dürfen wir nie wieder in Urlaub fahren?«, frage ich.
»Doch, aber ungeplant.«
Es hupt. Lautstark und ausdauernd, was daran liegt, dass Dr. Frieder sich unmöglich hingestellt hat. Er hebt die Hand und lässt ohne Eile den Motor an. Ich drücke ihm einen Abschiedskuss auf die Lippen und hüpfe aus dem Bulli. Einen Augenblick später ist er mit unseren vierpfotigen Mitbewohnern davon geknattert.

 

Kapitel 4

Ich steige hinauf in den dritten Stock des in die Jahre gekommenen Bankgebäudes und schließe die Tür zu den Foxinet Firmenräumen auf. Von unseren obersten beiden Stockwerken hat man einen grandiosen Blick gen Osten, über Bahnhof, Gleise und Hafenanlagen hinweg auf den See.
Der zeigt sich seit ein paar Tagen ungewöhnlich milchig türkis bis smaragdgrün. Die Kieselalgenblüte, die das Karibikfeeling beschert, zeugt von guter Wasserqualität. Ein paar Segelboote durchpflügen den türkisfarbenen Traum.
Ich gehe durch die Räume und reiße alle Fenster auf. Über die Wendeltreppe steige ich ins obere Stockwerk. Fast erwarte ich, Bernd an seinem Arbeitsplatz sitzen zu sehen: Langärmeliges Karohemd, verschwitzte dunkelblonde Strähnen in der Stirn, versunken in eine Aufgabe.
Der Platz ist leer. Natürlich ist er das. Bernd wurde vor einem Jahr ermordet. In wenigen Tagen werden wir eine Gedenkfeier abhalten. Es ist damit zu rechnen, dass wir seinen Schreibtisch auch danach unangetastet stehen lassen werden.
Ein Jahr ist es her, dass ich das erste Mal mit einem Mordfall konfrontiert wurde, auf einmal mittendrin steckte und selbst unter Verdacht geriet. Heute kommt es mir unwirklich vor. Als wäre es einer anderen Person passiert. Trotzdem. Wenn ich mich Bernds Schreibtisch nähere, sehe ich ihn dort sitzen, wie ich ihn wenige Stunden vor seinem Tod das letzte Mal habe sitzen sehen. Bedeutet das, ich habe es noch immer nicht verarbeitet? Nach einem Jahr? Wir standen uns nicht mal besonders nahe.
Ich schiebe den Gedanken beiseite und setze mich an meinen eigenen Schreibtisch im unteren Stock. Externe und interne Mails beantworten, Fortschritt der beiden laufenden Projekte verfolgen, Buchhaltung, Mahnwesen … was man halt so macht als Geschäftsführerin eines kleinen Unternehmens.
Gedankenverloren stehe ich in einer Arbeitspause vor der Kaffeemaschine und beobachte, wie der Espresso in die hellblaue Tasse tröpfelt. Mein Handy klingelt.
»Inés, Chica!« Tante Inés’ Stimme klingt ungewohnt schrill, kämpft gegen eine gewaltige Geräuschkulisse an. Bahnhofslärm.
»Ayuda!«
Soweit reichen meine nicht vorhandenen Spanischkenntnisse: Sie schreit um Hilfe. Lautes Scheppern, als würde ihr Telefon auf Stein aufschlagen.
»Tante Inés?«, rufe ich. Der Hintergrundlärm dringt unvermindert an mein Ohr, aber kein Ton mehr von ihr. Ich rufe ein paar Mal. Nichts. Dann bricht die Verbindung ab.
Fassungslos starre ich mein Smartphone an, es möge mir gefälligst erklären, so smart wie es ist, was da gerade passiert ist. Dann komme ich selbst auf die Idee, mal zurückzurufen. Eine englischsprachige Mailbox meldet sich.
»Tante Inés, wenn du das abhörst, ruf mich bitte zurück«, hinterlasse ich auf Englisch.
Danach kippe ich den Espresso auf ex, verbrenne mir die Zunge, fühle mich gleichwohl gestärkt und rufe die Telefonnummer an, die mir Google bei der Suche nach der Polizei am Hauptbahnhof Zürich präsentiert. Wenn ich mich recht an Tante Inés’ Reiseplan erinnere, müsste sie jetzt dort sein.
Kurz erläutere ich, worum es geht, und beschreibe Tante Inés.
»Wie ist der Name der vermissten Person?«, fragt der Polizeibeamte der Kantonspolizei Zürich, Polizeiposten Hauptbahnhof Zürich.
»Tante Inés«, sage ich, ohne nachzudenken.
»Ich verstehe, und wie weiter?« Der Ton der kratzenden Stimme ist leicht amüsiert.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie wissen nicht, wie ihre Tante mit Nachnamen heißt?«
»Sie ist nicht meine Tante, sie ist …« Gerade noch so kriege ich die Kurve, nicht drauflos zu plappern, sie sei Fidels Tante, dessen Nachnamen mir auch unbekannt sei, der aber für die Mafia in Miami arbeite und verschwunden sei, ebenso wie sein Kollege Carlos, seit einigen Wochen schon.  …

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